Gedenkstätten & Mahnmale in Berlin

Eine EU-Norm für Gästeführer? So was gibt’s. Die EU-Norm DIN EN 15565.
Weil ich im Rahmen des Lehrgangs auf dem Weg zum Zertifikat auch Recherchetexte schreiben darf, teile ich sie hier mit euch. Manchmal geht es um Gebäude und Ecken, denen ich sonst nicht so viel Aufmerksamkeit schenke. Aber spannende Geschichten sind überall versteckt.

Neben den über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Gedenkstätten und Mahnmalen zum Nationalsozialismus gibt es in Berlin auch viele weniger bekannte Orte und Hinweise, die an Menschen und Ereignisse der Zeit von 1933 - 1945 erinnern. 

Gedenktafel am Haus Winsstraße 63

Auf dem weißen Porzellan der Königlichen Porzellan-Manufaktur ist in kobaltblauer Schrift zu lesen: “Hans Rosenthal lebte hier von seiner Geburt im April 1925 an bis 1941”. Wer in den 70er- & 80er-Jahren Fernsehsendungen verfolgte, der kennt den Namen des beliebten Showmasters von Dalli Dalli und anderen Quiz- und Unterhaltungssendungen. Vor allem sein von einem Sprung begleiteter Ruf “Das war Spitze!” ist unvergessen. 

Im zweiten Stock des Gründerzeitbaus im Prenzlauer Berg wohnt die Familie gemeinsam mit der Großmutter. Hans kleiner Bruder Gert ist sieben Jahre jünger als er. Hans spielt begeistert Fußball mit den Kindern in der Nachbarschaft und besucht die Volksschule im Kiez. Aber ab 1935 muss er die Jüdische Mittelschule in der Großen Hamburger Straße besuchen. Sein Vater verliert wegen seines jüdischen Glaubens den leitenden Posten bei der Deutschen Bank und stirbt kurz danach. Nur vier Jahre später erkrankt die Mutter an Magenkrebs. Im Jahr 1941 verlassen Hans und Gert als Vollwaisen das Haus in der Winsstraße. Hans bereitet sich eigentlich gerade in einem Jugendlager in der Niederlausitz auf eine Ausreise nach Palästina vor. Dort lernt er landwirtschaftliches und handwerkliches Arbeiten. Aber um bei seinem Bruder zu sein, ziehen sie gemeinsam in das Jüdische Waisenhaus an der Schönhauser Allee.

Baruch Auerbach’sches Waisenhaus - Mahnmal 

Hans wird schon kurze Zeit später in ein Heim für Jugendliche in der Rosenstraße in Berlin-Mitte geschickt. Offenbar hat er sich “renitent” gezeigt. Er weigert sich, den Judenstern zu tragen und schleicht sich häufig heimlich davon. Seinen kleinen Bruder besucht er noch einmal vor dessen Deportation. Gert hat Geld gespart und davon 50 Postkarten gekauft. Alle hat er schon mit “Hansis” Adresse beschriftet und der 10-jährige verspricht, ihm jeden Tag eine davon zu schicken, dem großen Bruder zu berichten, wo er sei und wie es ihm gehe. Hans Rosenthal erhält keine einzige dieser Karten.

Das Gebäude des Waisenhauses wird gegen Ende des Krieges zerstört. Nur ein Teil der Mauer ist im Innenhof der heutigen Neubauten erhalten. Direkt am Radweg der Schönhauser Allee weist eine Tafel neben der Skulptur eines Fußballs den Weg dahin. Die Berliner Künstlerin Susanne Ahrens gestaltete das Mahnmal Hier habe ich gelebt. In den Mauerrest sind 140 Namen der Waisenkinder und ihrer Betreuenden graviert. Je nach Alter der Kinder sind ihre Namen in unterschiedlicher Höhe, ihrer ungefähren Körpergröße entsprechend, in die Steine geschrieben. Als hätten sie sich selbst vor ihrer “Abwanderung”, wie Deportationen damals umschrieben wurden, im Stein verewigt. Glücklicherweise unzerstörbarer als das von Schülerinnen und Schülern getöpferte Spielzeug, das auf der Vorgartenmauer an diesen Ort erinnern sollte. Da es kurz nach der Installation zertrümmert wurde, werden die Bruchstücke im Museum Pankow aufbewahrt und nur an Gedenktagen hier ausgestellt. 

Mit dem so genannten “21. Osttransport” werden am 19. Oktober 1942 über 900 Menschen, darunter 60 Waisenkinder und Gert Rosenthal, vom Güterbahnhof Moabit aus nach Riga deportiert. Bereits drei Tage später sind sie nicht mehr am Leben, in den Wäldern erschossen oder im KZ ermordet worden. 

Ihr letzter Weg - Audiowalk 

Der Moabiter Verein Sie waren Nachbarn leistet seit 2011 Erinnerungsarbeit und recherchiert zu den Deportationen vom Güterbahnhof an der heutigen Ella-Epstein-Straße, wo sich ein Gedenkort an einem Gleisstück befindet. Mit dem kürzlich veröffentlichten Audiowalk wird der Weg der Menschen von der Sammelstelle in der Synagoge Levetzowstraße zum Bahnhof nachverfolgt. Auch vom Jüdischen Krankenhaus im Wedding und dem Jüdischen Altenheim in der Großen Hamburger Straße in Mitte laufen sie mit ihrem Gepäck in der Hand am hellichten Tag, bewacht und getrieben von Männern der SS, durch die Straßen. Alle können es sehen. An mehreren Stationen erinnern Hörbeiträge an die Deportierten. Inzwischen sind die Texte auch als Broschüre erschienen und können beim Verein bestellt werden. 

Hans muss Zwangsarbeit leisten. Über seinen Einsatz als Totengräber auf dem Städtischen Friedhof in Fürstenwalde schreibt er später in seiner Biografie, dass er “wohl der einzige Jude war, der Nazis unter die Erde bringen konnte”. Außerdem muss er im Akkord für eine Fabrik in Weißensee arbeiten. Die Blechemballagen-Fabrik Alfred Hanne in der Langhansstraße produziert unter anderem den WM-Kocher, einen Faltkocher für die Soldaten der Wehrmacht.

Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit

In Schöneweide sind in den Baracken des ehemaligen Lagers für Zwangsarbeiter mehrere Ausstellungen zum Thema Zwangsarbeit unter den Nationalsozialisten zu besichtigen. Inmitten eines Wohngebiets wird diese fast vollständig erhaltene Anlage Ende 1943 unter der Leitung von Albert Speer errichtet. Allein in Berlin existierten etwa 3000 davon. Auf dem Gebiet hier, das sich über die Fläche von fast fünf Fußballfeldern entlang der Britzer Straße und Köllnischen Straße ausdehnt, standen Unterkunfts- und Wirtschaftsbaracken für mehr als 2000 Menschen. Ein Großteil der Bewohner waren italienische Zwangsarbeiter, darunter Kriegsgefangene, denen die Dauerausstellung Zwischen allen Stühlen gewidmet ist. Leider sind diese wegen der Pandemie zur Zeit geschlossen. Aber entlang der Zäune rund um das Gelände sind Freiluftausstellungen installiert. Außerdem gestaltet das Team des Dokumentationszentrums eine hervorragende Online-Präsenz sowohl auf der Website als auch im Bereich Social Media. Für Recherche und Forschung stehen ein Online-Archiv, Datenbanken sowie die Bibliothek zur Verfügung. 

Hans Rosenthal gelingt mit Hilfe seiner Großmutter im Frühjahr 1943 schließlich der Weg in ein Versteck. Sie vermittelt ihm den Kontakt zu Ida Jauch, einer nicht-jüdischen Bekannten seiner Mutter. Frau Jauch lebt in einer Schrebergartenkolonie in Lichtenberg, etwa fünf Kilometer von der Winsstraße entfernt. In einem kleinen Verschlag ihrer Laube kann der inzwischen 18-jährige unterkriechen. Nicht nur er lebt in ständiger Gefahr, entdeckt zu werden, auch seine Helferin riskiert ihr Leben und teilt die ohnehin knappen Lebensmittelrationen mit ihrem Schützling. Zwei weitere Bewohnerinnen der Kolonie sind eingeweiht. Zum Glück, denn als Ida Jauch überraschend stirbt, übernehmen sie die Betreuung des Jungen. Bei Maria Schönebeck findet er den nächsten Unterschlupf. Emma Harndt versorgt ihn mit Zeitungen und sogar einem Radioempfänger. “Alles haben sie mit mir geteilt”, sagt er später dankbar in Erinnerung an die Frauen. Anhand von Informationen aus der Zeitung und durch das Abhören verschiedener Sender kann er den Verlauf des Krieges von seinem Versteck aus verfolgen. Die Warnsirenen vor Luftangriffen bereiten ihm keine Angst, sondern bedeuten ein kleines Stück Freiheit, denn nur während die Bomben fallen kann er sich hinaus wagen. Auch wächst mit jedem Flugzeug der Alliierten die Hoffnung, dass der Krieg bald vorbei ist. Ende April 1945 hört er endlich die Panzer der sowjetischen Armee und kann sein Leben neu beginnen. Zwei Leben in Deutschland ist der Titel seiner Autobiografie, die 1980 erscheint und in der er zum ersten Mal seine Erlebnisse während der Nazizeit beschreibt.

Die Kleingartenkolonie Dreieinigkeit existiert nicht mehr. Sie verschwindet in den 1960er-Jahren mit der neuen Bebauung des Ortsteils Fennpfuhl im Ostteil von Berlin. Eine Gedenktafel vor der Schule am Roederplatz erinnert an Hans Rosenthal und die drei Frauen. Neben erläuternden Texten sind Fotos und Karten in die auf einem Betonsockel installierte Tafel eingefügt.

Mein Buchtipp zum Thema Jüdische Kinderheime und Waisenhäuser in Berlin zur Zeit des Nationalsozialismus: Die Erinnerungen Zerstörte Kindheit und Jugend von Regina Steinitz mit Regina Scheer. Herausgegeben von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.