Lebensalltag im geteilten Berlin

Eine EU-Norm für Gästeführer? So was gibt’s. Die EU-Norm DIN EN 15565.
Weil ich im Rahmen des Lehrgangs auf dem Weg zum Zertifikat auch Recherchetexte schreiben darf, teile ich sie hier mit euch. Manchmal geht es um Gebäude und Ecken, denen ich sonst nicht so viel Aufmerksamkeit schenke. Aber spannende Geschichten sind überall versteckt.

Beobachtungen bei Besuchen in West- & Ost-Berlin

Aufgewachsen bin ich in Lübeck. Vierzig Kilometer der Stadtgrenze waren gleichzeitig die Grenzlinie zur DDR. Wer am Strand des Priwalls bei Travemünde stand, konnte auf Mecklenburger Seite die Wachtürme sehen und Hunde, die angeleint hin- und herliefen. Häufig war auch ihr Bellen zu hören. 

1972 traten Erleichterungen im Reiseverkehr zwischen BRD & DDR in Kraft

Die vereinfachten Regeln für den Besuch vertraglich festgelegter Landkreise und Städte in Grenznähe fielen unter den Begriff Kleiner Grenzverkehr. Einfacher wurde es allerdings nur für nahe der Grenze lebende Westbürger, die nun einen Mehrfachberechtigungsschein für die Einreise in die DDR erhalten konnten. Maximal neun Besuche pro Vierteljahr waren erlaubt, ohne beispielsweise eine Einladung von Freunden oder Verwandten für den bisher üblichen Berechtigungsschein für den Empfang eines Visums haben zu müssen. So wurden spontane Fahrten von Lübeck nach Schwerin möglich, wo Freunde meiner Großeltern lebten. Außerdem besuchten wir, mit Besuchervisum, deren Tochter und Familie in Meißen und meine Großtante und Urgroßmutter in Güstrow. Und via Transitstrecke die Schwester meiner Mutter in West-Berlin. 

An häufige Grenzübertritte und das lange Warten an den Übergängen war ich also gewöhnt. Sehr gut kann ich mich an die Fragen der Grenzer nach mitgeführten Büchern, Zeitschriften oder Schallplatten erinnern. Es durfte nichts von unerwünschten Künstlern darunter sein, “faschistische Lieder wie Heino” wurde einmal gesagt. Mitgebrachtes Waschpulver wurde durchleuchtet, Spiegel unter das Auto geschoben, die Pässe uns abgenommen, in eine Baracke getragen und von dort auf einem langen Förderband zu einem weiteren Kontrollpunkt transportiert. An den Autobahnen der DDR gab es Raststätten und devisenbringende Intershops, wo nur mit D-Mark gezahlt werden konnte. Dort kaufte ich meine erste 300-Gramm-Tafel Toblerone. Die gab es nur dort, das glaubte ich lange. 

Als ich dann als Teenager allein reisen durfte, ging es häufig mit der Bahn und manchmal auch per Anhalter nach West-Berlin. Mein grüner Reisepass, ausgestellt im März 1984, ist übersät mit Stempeln der DDR von Kontrollen an den Übergängen der Transitstrecke Schwanheide und Zarrentin in Mecklenburg sowie Stolpe und Staaken. Auf dem Stempel von Stolpe ist ein LKW zu erkennen. Stolpe war der Übergang für den Transitverkehr per Auto vom und in den Ortsteil Heiligensee im französischen Sektor auf West-Berliner Seite. Der Kontrollpunkt Staaken lag entlang des Bahntransits in der Nähe von Spandau, Teil des britischen Sektors, daher ein Bahnwaggon auf dem Stempel.

Bei der Tante in West-Berlin

Die Besuche dort sind geprägt von Erinnerungen an riesige Behälter mit Eiscreme der Supermarktkette Reichelt, Fahrten zum Einkaufen nach Steglitz, wo mich besonders das Gebäude des Bierpinsels faszinierte, Milchkaffee aus echten Boules im Europa-Center, viele Besuche im Grips-Theater, der Schaubühne und andere kulturelle Erlebnisse. Das Stadtmagazin TIP mit seinen unendlichen Veranstaltungsterminen war immer griffbereit. Es war spannend und aufregend in der großen Stadt. Grenzenlos groß schien sie zu sein. Nie hatte ich den Eindruck, dass sich meine Verwandten in West-Berlin eingesperrt fühlten. Nur bei Spaziergängen in der Nähe der Glienicker Brücke, wenn wir auf die Heilandskirche im DDR-Niemandsland auf der anderen Seite der Havel blickten, die Patrouillen der DDR-Grenzboote auf dem Wasser beobachten konnten, rückte die Teilung der Stadt und die Mauer rund um West-Berlin ins Bewusstsein. 

Morgens auf einen Café au Lait ins Europa-Center, abends ins Berliner Ensemble

Nach einem Besuch mit einer Jugendgruppe aus Lübeck in Ost-Berlin, traute ich mich schließlich auch allein für Tagesbesuche von West-Berlin nach Ost-Berlin. In Nikolassee stieg ich in die S-Bahn und fuhr bis zum Bahnhof Friedrichstraße. Dort ging es durch die Grenzkontrollen. Mit meinem BRD-Reisepass brauchte ich keine Einladung für einen Tagesbesuch in Ost-Berlin. Das Visum wurde direkt an der Grenze erteilt, galt aber nur bis Mitternacht des Einreisetages und nur für den Bereich der damaligen Hauptstadt der DDR. Der geforderte Mindestumtausch, auch Zwangsumtausch genannt, von 25 Westmark in Ostmark musste natürlich geleistet werden. Aber ich wusste genau, wofür ich das Geld ausgeben konnte: Bücher, Schallplatten, Noten, Fotopapier, Kunstdrucke und Theatertickets. Denn im Stadtmagazin und im Tagesspiegel, der jeden Morgen auf dem Frühstückstisch lag, waren auch die Termine der Bühnen auf DDR-Seite gelistet. Vom Berliner Ensemble, kurz BE, waren es nur wenige Schritte zum Tränenpalast, der Abfertigungshalle für Ausreisende am Bahnhof Friedrichstraße, durch den ich bis spätestens 24 Uhr Ost-Berlin verlassen musste. Später traute ich mich auch ein paar Schritte weiter zu Aufführungen im Deutschen Theater. 

Und schließlich in den Prenzlauer Berg

Bei einem meiner Theaterbesuche lernte ich jemanden kennen, der am Berliner Ensemble arbeitete. Er wohnte in einer WG auf der Knaackstraße, nahe der heutigen U-Bahn-Station Eberswalder Straße, damals hieß sie Dimitroffstraße. Da die Wohnung - wie so viele - keinen Telefonanschluss hatte, konnte ich mich bei spontanen Besuchen nicht anmelden. Ich musste einfach hoffen, ihn anzutreffen. Die Haustüren standen meist offen, es war kein Problem, in die Hinterhöfe und Treppenhäuser zu gelangen, dort zu warten oder eine Notiz zu hinterlassen. An fast jeder Wohnungstür hingen für diesen Zweck Papier und Bleistift. Und wenn nötig konnte die Toilette auf halber Treppe genutzt werden. Bei meinem zweiten vergeblichen Besuch erinnerte ich mich daran, dass seine Mitbewohnerin in einem Café auf der Schönhauser Allee arbeitete. So viele davon wie heute gab es zu der Zeit nicht und so fand ich sie schon bald. Aus dieser Begegnung wuchs eine enge Freundschaft, die mir einen tiefen Einblick in den - eher ungewöhnlichen Alltag - der Schauspielerin und ihres Kreises bot. In vielen Wohnungen haben wir gesessen, viele Gespräche geführt, Veranstaltungen in Kirchenräumen besucht, eine davon mit dem Liedermacher Stephan Krawczyk, der im Februar 1988 in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.

Festgehalten an der Friedrichstraße

Erst in der S-Bahn auf dem Weg von Zehlendorf in die Innenstadt entdecke ich im Stadtmagazin, dass am Abend die Dreigroschenoper am BE gespielt wird. Die will ich sehen! Ein spontaner Entschluss. Zu spontan merke ich, als ich im Bahnhof Friedrichstraße im schmalen Durchgang der Passkontrolle stehe. Beide Türen zu dem kleinen Raum sind geschlossen, schräg über mir hängt der Kontrollspiegel, vor mir sitzt der Beamte der Passkontrolleinheit, eine Unterabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit, scheinbar endlose Momente des Wartens darauf, dass mir mein Reisepass zurückgereicht wird. Stattdessen das Summen der Tür, die aufspringt. Ein anderer Uniformierter führt mich in einen Raum. Ich muss meinen Rucksack ausleeren. Mich durchzuckt ein Schreck, denn ich habe einen Kalender dabei, in dem auch Adressen von Familie und Freunden notiert sind. Normalerweise trage ich ihn nicht bei mir, wenn ich in die DDR einreise. Alle meine persönlichen Sachen werden mitgenommen. Ich sitze allein an einem Tisch, eine Wache wird an die Tür gestellt. Als ich schließlich darum bitte, die Toilette benutzen zu dürfen, muss die Tür geöffnet bleiben, eine Uniformierte begleitet mich. Nach ein paar Stunden werde ich durch ein Labyrinth von Gängen auf den Bahnsteig geführt, wo mich die S-Bahn wieder in Richtung Berlin-West bringt. Die Einreise verweigert, die Informationen im Kalender wahrscheinlich kopiert. Glücklicherweise werden meine Freunde keine Folgen spüren. 

Ich traue mich nach einigen Monaten wieder an einen Grenzübergang und kann problemlos einreisen. Meine Freundin in Ost-Berlin erhält sogar im Oktober 1989 ein Visum zum Besuch einer Hochzeit in West-Berlin. Und bleibt. Erst Jahre später lese ich in meiner Stasi-Akte den Eintrag: “Politisches Engagement SPD”. Es war der Rote Kalender, den ich in meiner Tasche hatte.